‘Ja’ zur Diktatur?
Einsames Poster in der Betonwüste, Taksim Platz
Warum unsere Verwandten in Deutschland ‘Ja’ zur Diktatur sagten
Die Frage nach dem ‘Warum’ wurde direkt nach dem Referendum viel gestellt. Schon vorher wurde der Vergleich zwischen Freilandhühnern, die für die Käfighaltung anderer Hühner sind, gezogen. Ich maße mir nicht an eine besonders originelle Anwort zu geben, aber ich glaube ein wenig Licht auf die Sache werfen zu können.
Die Freilandhühner sehen nicht wie oppressiv das Leben in der Türkei unter dem Sultan in den letzten fünf Jahren geworden ist – ganz im Gegenteil. Türken in Deutschland sind in der Regel ein bis mehrere Male im Jahr in der Türkei. Das heißt sie erleben dort den Alltag nicht direkt. Sie haben wahrscheinlich wenige Freunde, die in der Türkei wohnen und betroffen sind. Vor allem die jüngeren Türken und Türkinnen, die hier einen liberalen Lebenstil führen, HipHop hören und kiffen, kennen in der Türkei wenige Menschen mit dem gleichen Lebenstil. Damit kennen sie niemanden persönlich, der nun im Gefängnis sitzt, jemanden der durch Erdogans Politik sein täglich Brot oder sogar sein Leben verloren hat. So jemanden kennt die Mehrheit nicht. Das macht es für Erdogans Rhetorik von Verrätern einfach. Es erleichtert einen relativ unpolitischen Blick auf “das Heimatland”. Es fehlt der persönliche Bezug zur Unterdrückung. Diese beschränkt sich auf Erzählungen, die in den heimatlichen Medien lautstark als Lügen von Terroristen und Staatsfeinden bezeichnet werden.
Wenn man nur einmal im Jahr kommt, dann sehen die Veränderungen in der Türkei, was Infrastruktur und co angeht, aus wie Wunder. Während man in Deutschland sich an Ipads als Menukarte und Drohnen gewöhnt hat, sehen gleiche Entwicklungen für den Besucher aus wie ein unglaublicher Fortschritt. Vielleicht möchte man auch gar nicht sehen, dass sich die Türkei ganz einfach weiter entwickelt sowie überall anders auch. Tatsächlich ist die Wirtschaftsentwicklung schon länger eher durchschnittlich gewesen. Nein, Erdogan hat keinen tollen Erfolge in diesem Bereich zu verzeichnen.
Gestärkt wird die Sicht des gloreichen Schaffens Erdogans dadurch, dass viele Türken in Deutschland schlecht integriert sind. Wer sich lange Zeit als Mensch zweiter Klasse fühlt, hat stärkere Tendenzen sich so schnell wie möglich mit etwas Größerem zu identifizieren. Und hier kommt Erdogans Erzählung von der großartigen Türkei, die sich nicht vor mächtigen Nationen schämen muss, sondern ihnen auch noch Paroli bietet.
Man füge nun noch Ghettoisierung und ein Versagen deutscher Bildungspolitik hinzu, die eben das selbstständige Denken nicht der breiten Bevökerung vermittelt und schon haben wir einen ganz gefährlichen Cocktail: Freilandhühner, die sich unterdrückt fühlen und den Käfig idealisieren. Erdogan ist ein wahres Propagandagenie und die Mehrheit ist allzu empfänglich für die scheinbare Heilsbringung (während wir kotzen, weinen, sterben).
Ursprünglich erschienen am 31.5.2017 auf kopuntu.org